Warum ich gern im Hock-Gang unterwegs bin

Ich bin also eine Rüttelfrau. Das habe ich von einer jungen Kollegin gelernt, die jüngst verlauten ließ, sie habe Angst Kinder zu kriegen, weil sie dann Gefahr laufe, eine Rüttelfrau zu werden. Was das ist? Eine Wortneuschöpfung. Meine Kollegin hat in New York eine Mutter dabei beobachtet wie sie ihren Kopf in einen Kinderwagen steckte und hin und her wog, damit das Kind einschlief. Und dann sah sie, dass sich das Baby an einem Finger der Mutter festhielt und diese in einer Art Hock-Gang neben dem Kinderwagen herlief.

Meine Kollegin kennt solche Frauen, aus dem Berliner Prenzlauer Berg. Es sind Frauen, die Biospucktücher zu kurzen Haaren tragen, mit Männern, die nur noch Väter sind. Jetzt hat sie Angst. Sie fürchtet, dass sie genauso werden könnte wie die „irre Rüttelfrau“, dass sich ihr Gehirn auf seltsame Art verändert und sie nicht mehr Herrin ihrer Sinn ist, wenn sie Mutter wird.

Sie ist nicht die erste, die sich über die Veränderungen von Menschen echauffiert, die Eltern geworden sind. Und sie wird nicht die letzte bleiben. Vielleicht ist es eine Art natürlicher Reflex, dass sich Frauen so lange über Frauen, die Mütter sind, lustig machen, bis sie selbst Mütter werden.

Was diese Frauen gern vergessen, ist, dass sie selbst einmal Kinder waren, und dass sie – das wünsche ich ihnen wenigstens – eine Mutter hatten, die sie in den Schlaf gewogen, die nachts an ihren Bettchen gewacht, Tränen getrocknet und Händchen gehalten hat.

Meine Kollegin hat sich sogar kürzlich bei ihrer Mutter bedankt, am Muttertag, mit einem schönen Text über den Einfluss, den Mütter auf das spätere Leben ihrer Kinder haben. Fazit: Zu wenig Bindung führt zu späteren Verhaltensauffälligkeiten. Warum sie jetzt Angst hat, dass sie zu einer Rüttelfrau wird, leuchtet mir unter diesen Umständen nicht mehr so richtig ein. Aber vielleicht kann man ihr ja ein kleines Bisschen ihrer Angst nehmen.

Denn auch wenn es ihr möglicherweise nicht auffällt: In der Redaktion, zu der sie gehört, wimmelt es von jungen Müttern und Vätern, die immer noch Frauen und Männer sind. Sie tragen saubere Klamotten, sagen nicht den ganzen Tag „gacka“ und „gucku“, sie gehen aufrecht und Biospucktücher habe ich an ihnen bisher nicht entdeckt.

Wenn sie ihre Artikel geschrieben, ihre Nachrichtenschichten beendet, ihre Projekte fertiggestellt haben, dann beginnt ihre zweite Schicht. Dann gehen sie in eine Kita oder Schule und holen ein kleines Wesen ab, das ihres Schutzes, ihrer Zuwendung und ungeteilten Aufmerksamkeit bedarf. Dann singen sie Kinderlieder und basteln womöglich kleine Kastanienmännchen – und zwar unabhängig davon, ob sie selbst einen ausgeprägten Hang zum Basteln haben oder nicht.

Sie halten die Händchen ihrer Kinder, manchmal sogar stundenlang. Sie lassen sich um den Schlaf bringen und stehen am nächsten Morgen trotzdem wieder geschniegelt in der Redaktionskonferenz. Warum sie sich das antun?

Weil sie beides wollen: Eltern sein und ein Lebens jenseits dieser Rolle führen. Es ist ein Drahtseilakt, den man da vollführt, es ist anstrengend, es lässt einen manchmal verzweifeln. Aber es ist machbar. All die Eltern hier beweisen es jeden Tag.

Ich bin gern eine Rüttelfrau, wenn es sein muss, und ich gehe im Hock-Gang, wenn mein Kind meine Hand halten möchte. Ich mache das nicht, weil mein Gehirn nicht mehr richtig funktioniert, sondern aus Überzeugung. Ich glaube nämlich, dass meine Kollegin Recht hat: Zu wenig Zuneigung führt zu Verhaltensauffälligkeiten. Also lasst die Mamas dieser Welt doch bitte rütteln!

The Old Navy Man

Wikipedia

Ich bin ja nun weiß Gott kein Militarist. Ganz und gar nicht. Das Maritim-Museum in Sydney habe ich mir dennoch angesehen – und in diesem Zuge auch ein stillgelegtes U-Boot der australischen Marine. Darin befanden sich mehrere Veteranen, die als freiwillige Helfer uns Unwissenden erklären, wie das so abläuft 20.000 Meilen unter dem Meer. Am Steuerknüppel stand ein rüstiger Herr um die 60, der mich ausführlich mit den Bordinstrumenten vertraut machte und mir außerdem den „old navy man“ vorstellte, der neben ihm saß. Der war grob geschätzte 90 Jahre alt und hatte keine Stimme mehr. Er plapperte dennoch ohne Unterlass und bediente alle Instrumente zugleich. Der Herr neben ihm übersetze gelegentlich für mich, was der“old man“ eventuell gesagt hatte, und lächelte ansonsten milde und geduldig. Mich hat das beinahe zu Tränen gerührt. Da hat dieses Museum tatsächlich zugestimmt, dass dieser alte Matrose den ganzen Tag unten in dem U-Boot sitzen und ohne Stimme vor sich hin erzählen darf – damit er sich gebraucht und geachtet fühlt, nachdem er vermutlich sein ganzes Leben auf Kriegsschiffen, womöglich die meiste Zeit weit unterhalb der Wasseroberfläche verbracht hat. Er wusste haargenau wie oft dieses Boot auftauchte und wie schwer die Batterie ist, wie oft man nach ihr schauen musste und wie viel Mann an Bord waren. Zu viele. Bei Weitem reichten die winzigen Kojen nicht aus, es wurde in Schichten geschlafen. Die drei vorhandenen Duschen duften von jedem Matrosen ein Mal wöchentlich für drei Minuten benutzt werden. Da das mit der Frischluft ja auch so eine Sache war, möchte ich mir lieber nicht vorstellen, wie es dort gerochen haben mag. Aber man gewöhnt sich eben an alles. Und der alte Mann – so steht zu befürchten – mag gar nicht mehr so gern draußen im Licht herumlaufen. So viel Platz macht ihm vielleicht nach all den Jahren auf dem U-Boot Angst. Wie gut, dass er nun Ahnungslosen wie mir ein Stück von seiner Welt vermitteln kann. Zum Militaristen werde ich nicht mehr. Aber dass Menschen diesen Job machen, eingepfercht mit Hunderten in so einem U-Boot, davor habe ich großen Respekt!

Kilpatrick Oyster oder die Emanzipation eines souveränen Staates

Seit ich auf einer Austernfarm in Tasmanien, dieser wundervollen Insel südlich des australischen Kontinents, Austern gegessen habe, bin ich diesen kleinen schlüpfrigen Scheißerchen ein bisschen verfallen. „Shuck me, suck me, eat me raw“, hieß es da etwas frivol: „Knack‘ mich, schlürf‘ mich, iss‘ mich roh!“ Kein Problem. Wie isst man Austern denn auch sonst? Nunja…Australien ist und bleibt very british. Austern essen die Australier deswegen für Ihr Leben gern „kilpatrick“. Musste ich natürlich probieren, is‘ klar! Was soll ich sagen: Lecker. Nur, wo war jetzt die Auster? Man fasst es ja nicht, aber eine „Kilpatrick Oyster“ wird mit heißem Käse, Unmengen gebratenem Speck und Worcestersauce übergossen, bis von ihr nur noch ein kläglicher, vollends im heißen, fettigen Sud ertränkter Rest irgendwo unter dem Speck auszumachen ist. Wie gesagt, das schmeckt. Nach Speck und Worcestersauce. Liebe Australier:  Britisches Erbe hin oder her, von so einem Verbrechen am Meeresgetier muss man sich als souveräner Staat emanzipieren!

Und, was haben Sie gelernt?

„Hach, ich habe so lange kein Deutsch mehr gehört“, sagt die Frau neben uns am Tisch. Sie mag um die 80 Jahre alt sein, hat mit ihrer Freundin von Sydney aus Neukaledonien und Vanuatu mit dem Schiff bereist – wie wir. Ich lächle sie an. Wo wir herkämen, will sie wissen. Aus Berlin. Sie sei aus Dahlem, sagt sie. Wo auch ich geboren wurde. Jetzt sitzen wir nebeneinander, am anderen Ende der Welt. Ist das zu fassen? Wann sie denn hierher gekommen sei, fragen wir zurück. 1938, sagt sie. Verstehe, murmele ich. Dämlicher Kommentar. Als könnte ich das verstehen. Wir sind Juden, sagt sie dann. Mein Vater war Zahnarzt und Neuseeland hat damals zwölf Zahnärzte aufgenommen. Ihre Familien durften sie mitbringen. Buchstäblich in letzter Minute. Zwölf? Ja, zwölf. Die brauchten zwölf Zahnärzte und mehr haben sie auch nicht aufgenommen. Ihr Blick ist unergründlich, wandert dann zu unserer Tochter, die auf ihrem Hochstuhl Grimassen zieht. Naja, sagt sie, das ist eine andere Generation. Dann lächelt sie uns an.

„Was haben Sie heute gelernt?“, fragte mein Professor an der Uni mich gern nach seinen Vorlesungen. Eine Frage, die ich mir seitdem immer dann stelle, wenn ich mich irgendwo weiterzubilden versuche. Das Sydney Jewish Museum sei klein und wenig beeindruckend, hatte ich gelesen. Stimmt, klein ist es. Trotzdem habe ich dort eine Menge gelernt. Dass es in Australien von Beginn der europäischen Besiedelung an eine kleine jüdische Gemeinde gab zum Beispiel, weil unter den ersten Strafgefangenen, die die Briten hier abluden, 16 Juden waren. Von deren Nachfahren einer das erste australische Theater gründete. Das nur nebenbei. Und dass Australien pro Einwohner die meisten Überlebenden nach dem Holocaust aufnahm. Was aber nicht eben viel war, weil dieses Land ja doch sehr spärlich besiedelt ist. Nicht mehr als 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung sollte jüdisch sein bitteschön – so die damalige Immigrationspolitik. Das australische Einwanderungsformular von 1945 wies ganz offen die Frage „Sie sind jüdisch?“ auf. Und selbst unter den Juden unterschied die Regierung: Solche osteuropäischen Ursprungs wollte man gar nicht hier haben. Trotzdem gehörte der Kontinent zu den beliebtesten Auswanderungszielen der überlebenden europäischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg. Und zwar wegen der größtmöglichen Entfernung zu Europa. „Ich gehe so weit weg von Europa wie ich kann … nach Australien. Sie sagten mir, ich soll bis zum Ende der Welt gehen und dann rechts abbiegen“, beschreibt einer der Ankommenden seinen Entschluss. Dabei bedeutete die Auswanderung hierher eine dreimonatige Schiffspassage unter zum Teil fürchterlichen Bedingungen. Einen Flug konnte sich kaum einer leisten. Insgesamt 35.000 Juden nahm Australien während und nach dem Holocaust auf. Die meisten kamen ohne einen Pfennig in der Tasche an, mit einem Koffer und einem Beruf, der ihnen hier nicht viel nutzte. Die wenigsten sprachen gutes Englisch.

Ich muss an die Frau denken, die auf dem Schiff neben uns gesessen hat. Warum ich sie nicht mehr gefragt habe, frage ich mich jetzt. Wie das war, diese Schiffspassage, drei Monate von Deutschland nach Neuseeland, ohne zu wissen, wo genau das eigentlich liegt und was genau einen dort erwartet. Und wie das war, zu verfolgen, was in der einstigen Heimat danach geschah, mit all den Zurückgebliebenen, die zufälligerweise keine Zahnärzte waren und nicht mehr ausreisen konnten. Wie sie heute steht zu dieser merkwürdigen Heimat, die ihr kaum je eine Heimat war, in die sie zwar geboren, in der sie aber nie Willkommen war. Und ob ihr Neuseeland oder Australien, wo sie heute lebt, diese Heimat ersetzen konnten.

Etwas mehr als 100.000 Juden leben heute in Australien, ein paar Tausend in Neuseeland. Noch immer machen sie weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung aus.

Gefangen im Auge des Sturms

Bildschirmfoto 2015-04-22 um 02.40.02Ja, manchmal regnet es auch in Sydney. Aber warum wir hier ausgerechnet den „Sturm des Jahrzehnts“, wie es in den Lokalmedien bereits vollmundig heißt, abkriegen müssen, ist mir ein Rätsel. Seit drei Tagen regnet es durch. Konstant. Bindfäden. Rausgehen ist wie duschen. Soweit so schlecht. Nachts trommeln die Tropfen auf einen kleinen Blechvorsprung vor unserem Schießscharten-Fenster. Es hört sich so an als würden gigantische Ratten direkt über unseren Köpfen Marathon laufen. Irgendwann kamen Gewitter und ein bisschen Wind dazu. Seit heute streiten die Nachrichtensprecher darüber, ob man das denn noch „storm“ oder nicht vielmehr schon „cyclon“ nennen sollte.

Bildschirmfoto 2015-04-22 um 02.28.47Bondi Beach, die Surferikone Sydneys, ist geflutet, der berühmte Icebergs-Pool nicht mehr zu sehen. Der gesamte Strand ist meterweit nach oben gewandert und hat die dahinterliegende Straße in eine Wüste verwandelt. Sieht irgendwie schön aus, keine Frage, aber die Besitzer der dort geparkten Autos und die Bewohner Bondis finden das vermutlich nur bedingt „schön“.

In Sydney hat jetzt niemand mehr einen Regenschirm, dafür quellen die Mülleimer von verbogenen und zerbrochenen Schirmen über. Auch wir mussten in Ermangelung eines adäquaten Regenschutzes (zwei Schirme haben wir dem Wettergott bereits geopfert) heute morgen warten, bis es so aussah als könne man zur Bahn laufen, ohne hinterher so auszusehen als habe man ein Vollbad genommen. Einige Stadtteile stehen unter Wasser, Tunnel und Straßen mussten komplett gesperrt werden.

Bildschirmfoto 2015-04-22 um 02.38.55Aber am fiesesten hat es die Gäste der „Carnival Spirit“ getroffen, die gestern von einer 12-tätigen Kreuzfahrt aus Fiji zurückkehrten – bzw. nicht zurückkehrten. Der Ozeanriese durfte am Vormittag aus Sicherheitsgründen nicht in den Hafen einlaufen, war aber bereits zu weit im Hafenbecken als dass er hätte wieder hinaus auf die viel ruhigeren offenen Gewässer fahren können. Man rechnete jeden Moment damit, endlich einlaufen zu können. Stattdessen haben 2500 Passagiere den Tag und die Nacht eingesperrt in einem Schiff zwischen meterhohen Wellen verbracht. Alles flog durch die Gegend, eine große Welle peitschte einfach durch eine Glastür und flutete eines der Decks. Jetzt, um zehn Uhr am folgenden Vormittag, darf die Spirit endlich anlegen. Wie ein Geisterschiff rückt sie langsam näher, im immer noch dichten Regen. Wenigstens der Wind hat etwas abgeflaut.

FullSizeRenderVor unserem Bürofenster zeigt sich seit ein paar Minuten ein Streifen blauen Himmels, hinten beleuchtet von – echt jetzt? – der Sonne. Man vergisst das ja, aber irgendwo hinter den turmhohen schwarzgrauen Wolkenbergen wartet sie darauf, endlich wieder scheinen und die Erde trocknen zu dürfen. Wir freuen uns drauf.

Wie der Berliner sagt: Mach hinne!

Theater, Theater, Theater

16.000 Kilometer weit weg finde ich sofort ein Zuhause. Eines mit schwarzem Gummiboden auf Parkett, Holzstangen an drei Seiten, Spiegel an der vierten, Flügel in der Ecke. Es riecht merkwürdig vertraut, nach Holz, nach Schweiß, nach Lederschuhen. So riecht es, seit ich vier Jahre alt bin. Weltweit sind es die gleichen Übungen, mit denen sich Balletttänzer aufwärmen, eine Hand an der Stange, kritischer Blick in den Spiegel. Weltweit sind es auch dieselben Worte, die diese Übungen bezeichnen, ein krudes Französisch, jeweils mit etwas Lokalkolorit durchmischt. Tondue, das spricht die Berliner Staatsopern-Schule gern „Tangdü“, die Engländer hingegen sagen „Täähndu“, Betonung auf dem „ä“. Man versteht sich trotzdem. Nach mehr als 25 Jahren macht der Körper das sowieso von ganz allein. Langweilig? Im Gegenteil. Was für Laien nach fieser Verrenkung aussieht, gibt dem über Jahrzehnte daran gewöhnten Körper jene Form, die sich nach Heimat anfühlt – und befreit den Geist. Außerdem schließen sich Langeweile und Ballettklassen ohnehin aus. Denn es gibt immer was zu gucken. Eine Art Theaterstück, das überall aufgeführt wird, nur mit unterschiedlichen Protagonisten. Kein Klischee, ich schwöre:

Da gibt es die Streberin. Sie liegt bereits vor Beginn der Stunde im Spagat vor dem Spiegel. Sie dehnt sich nicht, sie führt vor. Sie steht immer auf der Bühne. Sie grinst permanent. Hier in Sydney – das war mir neu – hat sie gern einen Knaben dabei. Einen talentierten jungen Mann, der sich ganz offensichtlich nicht für Frauen interessiert, um die Primaballerina der Gruppe aber herumschwirrt wie ein Satellit. Die beiden albern und posieren die ganze Stunde lang herum. Dazu die Lehrer. Sie wollen ja gute Pädagogen sein. Streber niemals bevorzugen. Jemanden, der sich derart zur Schau stellt, schon gar nicht. Aber sie können nicht anders. Ein Tänzer kann sich guter Technik, absurd hohen Sprüngen und dem Ehrgeiz, nicht zwei, nicht drei, nein vier Pirouetten zu drehen – wenn die Musik auch nur für zwei reicht – einfach nicht entziehen. Also grinsen sie mindestens so debil wie der kleine Satellit und ergötzen sich an der freilich auch noch unverschämt gutaussehenden Schülerin. So gesehen übrigens mehrmals in unterschiedlichen Klassen mit unterschiedlichen Ballerinen und verschiedenen Lehrern. Und einer der Satelliten-Jungs – das kann man nicht unerwähnt lassen – der hatte seine Haare so gestylt hatte, das sie ihm wie Schwanenfedern ins Gesicht wuchsen. Ehrlich!

Es gibt auch immer eine kleine Dicke. Tut mir Leid, aber es ist so. Sie vollführt ihre Übungen hochkonzentriert und versucht dabei so wenig wie möglich aufzufallen. Was ohne Probleme gelingt: Ballett ist ein hartes Geschäft, in dem der eigene Körper das entscheidende Kapital ist. Das ist bei Laien nicht anders als bei Profis.

Neben mir an der Stange dann noch der in die Jahre gekommene Jazz-Lehrer: Mitte 40, Asiat, langes, wallendes Haar, verpartnert mit einem Berliner Musicaldarsteller aus Schöneberg. Er tanzt inbrünstig. Zwischendurch wirft er sich völlig unvermittelt auf den Boden, in den Spagat, und dehnt sich aufreizend. Beim Aufstehen kontrolliert er mit einem raschen Griff die Muskulatur seines Hinterteils und guckt sehr kritisch. Zum Schießen.

Zu Tränen rührt mich eine ältere Dame. Ich sage Dame, denn sie ist eine. Ehemalige Tänzerin, das sehe ich auf den ersten Blick. Ihre Anmut ist kaum in Worte zu fassen. Von hinten sieht sie aus wie eine 14-Jährige, schlank, nicht eben groß gewachsen, aber athletisch. Ihrem Gesicht sieht man irgendetwas zwischen 75 und 80 Lebensjahren an. An der Stange trainiert sie hart, konzentriert und in sich gekehrt. Später, in der Mitte, offenbart sie eine solche Grazie, dass ich den Blick nur mit Mühe von ihr abwenden kann. Nach 60 Minuten setzt sie sich kommentarlos an den Rand und beginnt ihr Dehnprogramm. Der Kontrast zu unserer Primaballerina (sie nimmt stets an zwei Klassen hintereinander Teil) könnte nicht größer sein. Dazwischen ballettieren all die ganz normalen. So wie ich halt. Mehr oder minder gut ausgebildet, mit sich beschäftigt, trotzdem ein bisschen Rampensau. Das gehört dazu. Man bleibt nicht dabei, wenn man sich selbst nicht gern tanzen sieht. Da wär man ja Masochist. Schließlich steht man 90 Minuten in hautengem Zwirn vor’m Spiegel. Warum nochmal? Achja, fühlt sich an wie Zuhause – und Theater gibt es gratis dazu.

Jetzt hört mal auf zu meckern!

Kollegin L. schreibt ein Buch, in dem sie sich aufregt, dass ihr Freund N. um zwei Uhr morgens nicht mehr für Kneipentouren zur Verfügung steht, weil er die fiebernden Töchter bewachen muss. Twitter ist voller Mamas, die nach der Geburt festgestellt haben, dass das Kind sie mächtig einschränkt. Sie behaupten das Kunststück zu beherrschen, etwas zu lieben, von dem sie sich wünschen, es existiere gar nicht. Und bei Brigitte.de werden mir heute unter dem Titel „Dinge, über die keiner spricht“ gruselige Karikaturen über das erste Jahr mit Baby präsentiert. Bilde ich mir nur ein, dass plötzlich alle über das gleiche Thema plärren? Und ist es vermessen, wenn ich mich frage, was diese Menschen erwartet haben? Dass alles genauso weitergeht wie vorher? Dass man ein Baby so nebenbei mitlaufen lassen kann? Meine Schwiegeroma starrt noch immer fasziniert auf die Einwegwindeln meiner Tochter und schüttelt den Kopf über so viele ungeheuer praktische Accessoires. Wir haben alles, was wir brauchen. Und das unverschämte Glück, ein Kind geschenkt bekommen zu haben. Und trotzdem wird in einer Tour gemeckert. Versteh ich nicht. Versteh ich ganz und gar nicht.

Changing Perspectives #WatsonsBay

Watsons Bay, das ist da, wo sich die Leute gern in den Tod stürzen. Traurige Berühmtheit. Die spektakulären Klippen – The Gap – sind heute mit einem schwer zu überwindenden Zaun geschützt. Aber welcher Lebensmüde lässt sich von einem Zaun abhalten? OK, blödes Thema. Watsons Bay, das ist auch ein beliebtes Ausflugsziel für Sydneysiders. Allein der Weg dorthin, mit wunderbarem Ausblick auf die Stadt. Besonders schön im Indian Summer, der uns gerade freundlicherweise heimsucht und noch mal 30 Grad beschert, trotzdem angenehm frische Luft, nichts klebt. Direkt am Strand – malerisch – das älteste Fischrestaurant Sydneys, das Doyles. Wir haben es bei einem Selfie belassen. Der Oma wurde schon beim Anblick der Fischplatten amerikanischen Ausmaßes übel. Stattdessen Kaffee im Dunbar House, so richtig altenglisch, neben uns eine Klatschtantengesellschaft bei Tee, Champagner und winzigen Törtchen auf filigranen Etageren. Einmal 19. Jahrhundert bitte. Dunbar übrigens ist der Name des Schiffs, dessen Kapitän 1857 die Felsen mit der Hafeneinfahrt verwechselte. Es zerschellte an den Klippen, 121 Tote. Voller Dramatik, dieser Ort. Aber auch voll lieblicher Schönheit, britischem Kolonialcharme, schaukelnden Segelbötchen. Ein paar Stunden Watsons Bay machen dich wieder fit für die Innenstadt. Quasi das Wannsee von Sydney.

Zu Besuch im vorletzten Jahrhundert

Nach zehn Wochen in der großen Stadt, dem eisgrauen Finanzdistrikt mit seinen beeindruckenden Glas-Stahl-Fassaden und Horden hellblaubehemdeter und schwarzbeanzugter Herren, die durch die Straßen hetzen, musste ich mal raus. Frische Luft bitte. Auch das kein Problem in Sydney, zwei Stunden Zugfahrt, 1000 Höhenmeter, Eukalyptuswald, blaue Berge, Weite, Sauerstoff satt. Es ist eine Reise durch die Zeit. 80 Kilometer westlich von einer der modernsten Städte der Welt leben die Menschen so ein bisschen wie vor hundert Jahren. Empire-Schick. Wir haben im ältesten Gästehaus am Platz genächtigt, einem wunderschönen Herrenhaus voller Zierteller, Häkeldeckchen und Blümchentassen. Es war herrlich! Alles hinter sich lassen und erstaunt beobachten wie anders die Leute auf dem Land leben. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Armani-Kostümchen hier, höllisch entspannter Waldorf-Look dort. Unsere Gastgeberin trug Wallewallerock und führte uns barfuß durchs Haus. Es gab fünfzig Sorten Tee aus winzigen Porzellantässchen, selbst gebackenen Kuchen und Whiskey aus Glaskaraffen. Nach einer Nacht fühlten wir uns wieder geerdet, entspannt, abgekühlt. Bereit für die Rückkehr in die Heimat-auf-Zeit.